REISE ANS ENDE DER NACHT

Podiumsgespräch mit Elisabeth Bronfen im Kunstmuseum Stuttgart im Rahmen der Ausstellung „Leuchtende Bauten: Architektur der Nacht“, 22. September 2006

Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihre Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: Warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg. Friedrich Nietzsche

 

Robert Eikmeyer: Der Mensch ist schwermütig und überdrüssig, denn er verfügt für Nietzsche im Gegensatz zum Tier über Erinnerungen in Form von Bildern und Sprache. Um diese Erinnerungen geht es auch in „Blade Runner“, den wir ausgesucht haben, um im Rahmen der Ausstellung „Leuchtende Bauten: Architektur der Nacht“ darauf hinzuweisen, dass es auch eine düstere Version der nächtlichen Stadt gibt. Was wir in der Eingangssequenz von „Blade Runner“ gesehen haben, ist das Bild der so genannten dystopischen Stadt: Los Angeles im Jahr 2019, es ist dunkel, schmutzig, regnet ständig und wimmelt von Menschen. Die Handlung ist für unser Gespräch ebenfalls wichtig, denn es geht vereinfacht darum, ob man überhaupt eine vernünftige Entscheidung zwischen künstlichen und wirklichen Menschen treffen kann. Ein Teil der künstlichen Menschen, sie heißen im Film Replikanten, ist von einem fernen Planeten, auf dem sie arbeiten und kämpfen mussten, auf die Erde zurückgekehrt, weil sie von ihrem Schöpfer wissen wollen, wie lange sie noch zu leben haben. Harrison Ford spielt den Blade Runner, eine Art Kopfgeldjäger, der diese Replikanten finden und töten soll. Er ist in der Lage, künstliche Menschen von natürlichen zu unterscheiden. Interessant an der Szene mit Deckard am Klavier, die wir gerade gesehen haben, ist, dass die Replikanten ebenfalls ihre Erinnerungen über Familienfotos und sprachliche Implantate bekommen und so zumindest beim neuesten Modell glauben, ganz normale Menschen zu sein.

Elisabeth Bronfen: Der Held in Blade Runner heißt Deckard und das klingt natürlich wie Descartes, wenn man das auf Amerikanisch aussprechen würde. Diese Verweise auf den Skeptizismus – weiß ich mit Sicherheit, dass irgendetwas ist? – sind von Ridley Scott auch explizit intendiert, aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der den Film mit der Nacht und Descartes verbindet. Man kann Descartes’ „Meditationen“ auch wie eine Art Entschaffung oder rückwärtsgewandte Kosmogonie lesen. Nyx, die Nacht ist ursprünglicher als alles, was aus ihr entsteht. Sie gebiert den Schlaf und den Tod und alle möglichen anderen Gestalten bis hin zu den Phantasien. Descartes zweifelt an allem bis dann wie so eine Art archimedischer Punkt der Moment kommt, wo er sagt „ja aber ich denke und weil ich denke, weiß ich, dass ich bin“. Von diesem Punkt aus geht es für ihn dann wieder zurück in die Welt. Blade Runner ist da konsequenter, denn der Film spielt in dieser Welt, wo nur noch Dunkel ist, wo diese Sicherheit nicht mehr gewonnen werden kann. Und in dem Sinne interessiert mich die Nacht – und die urbanen Nächte, die wir in der Ausstellung sehen können, sind einfach ein Schauplatz dafür – wie so eine Art Umschlagpunkt. Man muss in die Nacht, in der Nacht muss was angelegt werden, damit man auch wieder in den Tag kommt. Die Nacht steht aber auch ein für diese Fülle an möglichen Bildern. Also die große Idee von Nietzsche und auch von Hegel, auf den wir dann auch noch zu sprechen kommen werden, ist, wenn Nacht mit Menschsein, mit Dasein verbunden wird, dann nicht mehr im Sinne von diesem Ursprünglichen, diesem Anfang von allem, an den man zurückkommt, sondern im Sinne von einem Durchlaufpunkt. Und dieser Durchlaufpunkt ist eben nicht leer sondern voll. Aber was in dem Durchlaufpunkt ist, ist noch nicht realisiert. Also es ist Potenzial ohne Realisierung und insofern ist noch alles möglich, also, das ist ein Punkt absoluter Virtualität.

Eikmeyer: Wenn Hegel sagt, dass der Mensch eine Nacht ist, dann meint er, dass der Mensch eine Potenzialität von Bildern ist. Der Mensch ist ein dunkler Raum, in dem es eine Virtualität von Bildern gibt und aus diesem Raum, dieser Virtualität oder Dunkelheit, greift der Mensch Bilder heraus – wenn man dem Menschen in die Augen schaut, dann sieht man eben diese Nacht – und bildet damit seine Phantasien. Dann kommt diese schöne Szene, wo Hegel schreibt, er greift im nächtlichen Wahn auch schon mal Bilder heraus wie zum Beispiel ein Gespenst oder auch mal einen abgeschlagenen Kopf und dann wird es dem Menschen unheimlich.

Bronfen: Film als Nachtmedium ist im Moment eine meiner Lieblingsideen. „Blade Runner“ spielt damit, dass eigentlich niemand mehr den Unterschied ausmachen kann zwischen Replikanten und Menschen. Alle haben Bilder und glauben an ihre Bilder. Und diese Bilder, die sie in ihrer Imagination, aus dieser Nacht des Ichs rausgeschöpft haben, definieren sie. Das heißt, über die Bilder, die man aus seinem inneren Dunkel heraus evoziert, bekommt man eine Realität, erlangt man Glaubwürdigkeit und Gewissheit. In Filmen wie „Blade Runner“ spricht Kino über sich selber. Wir sind in einem dunklen Raum und es erscheinen Sachen, Phantasmagorien, auf einer weißen Leinwand. In der Nacht der Welt ist ringsum alles dunkel, sagt Hegel, genau wie im Kinosaal erscheinen Bilder, von denen wir wissen, es sind Phantasmagorien, aber während wir sie sehen, sind sie keine Phantasmagorien, sondern bilden eine Wirklichkeit, die später sogar Teil meiner Wirklichkeit werden kann. Ich meine das jetzt gar nicht frivol, ich habe garantiert Stimmungen in mir, Gespüre für Landschaften oder auch für Gesten, bei denen meine Vernunft mir sagt, das hast du selbst gar nicht erlebt. Trotzdem sind sie ein Teil meiner Erfahrung. Für mein Projekt sind das die Momente, in denen die Medien auch über sich selber sprechen.

Eikmeyer: Und das Interessante ist, wenn wir jetzt auf Descartes noch mal zurückkommen, dass eben dieses „Ich denke“ gar nicht mehr das Entscheidende ist, sondern die Sprache selber oder die Bilder selber geben mir überhaupt erst die Möglichkeit zu denken. Das heißt, die Bilder und die Sprache gehen mir voraus oder müssen eben aktualisiert werden in unserer instabilen psychischen und physischen Welt. „Tiefer als der Tag gedacht“ ist natürlich kein rein philosophisches Buch, es ist gleichzeitig ein wunderbares Buch über den Film, über die Oper und über die Literatur. Dazwischen wird etwas verhandelt, was offensichtlich in diesen einzelnen Disziplinen nicht möglich ist. Ich habe ausschließlich düstere Filme über die Nacht gesehen; die Philosophie endet was die Nacht anbelangt meistens in der Verzweiflung; die Literatur ist immer Schauerliteratur und höchstens an den Stellen brauchbar, wo sie bei Autoren wie Bataille philosophisch wird. An diesen unsauberen Schnittstellen werden für dich die wirklich spannenden Fragen unserer Kultur verhandelt.

Bronfen: Ich habe hierfür irgendwann mal den Begriff cross-mapping geprägt. Inspiriert hat mich dazu Aby Warburg mit seinem Bildatlas. Er wollte sozusagen bestimmten Gesten nachgehen und zeigen, dass man daraus eine Art Tableau einer Geste erstellen kann, also zum Beispiel einer Nymphe mit einer bestimmten Handhaltung. So ähnlich gehe ich jetzt der Geste von Nacht als Ort der Produktivität nach, in die man eben hineinfallen muss, damit etwas mehr entstehen kann. Das kann moralisch sein, das kann ästhetisch sein, das kann auch philosophisch sein. Wenn man jetzt nur explizite Intertexte anschaut – also romantische Philosophie und Hegel –, kommt ja immer das Gleiche heraus. Spannend wird es, wenn man Visuelles, Philosophisches und Literarisches ins Gespräch miteinander bringt, weil dann deutlich wird, was das jeweilige Medium nicht machen kann. Die Philosophie sagt ja selber von sich, sie sei ein Lichtbringer und sie spricht dann immer von dem dunklen Teil der Wissenskarte, den sie mit ihrer Sprache nicht beschreiben kann. Das macht auch Benjamin, wenn er über Allegorie und Symbol spricht, das ist, was Nietzsche interessiert, aber im Gestus der Philosophie können bestimmte Dinge nicht beschrieben werden, weil, und das ist der interessante Punkt, man das nur durch Denkbilder beschreiben kann. Und das ist dann der Moment wo jemand wie Freud, wenn er versucht, die dunkle Seite der Psyche zu beschreiben, unglaublich poetisch bis Schauerliteratur-mäßig wird. An dem Punkt kann er nur auf Metaphern zurückgreifen und sagen, dass sind Dämonen, von denen du glaubst, dass sie dich von außen besetzen, aber eigentlich sind sie in dir drin. Dann greift er unwillkürlich sofort auf einen ganzen Fundus an Bildern zurück und zwingt uns – was wir vorher auch mit Hegel gesagt haben – an den Nachtpunkt, um diese Bilder, über die wir dann etwas erkennen können, aufrufen zu können. Das heißt, über die Nacht zu sprechen in diesem poetisch-philosophischen Sinn, heißt ja nicht, über die konkrete soziologisch-urbane Nacht zu sprechen, sondern über die ganzen Phantasien, die mit der Nacht verknüpft sind, aber auch das mit der Tagesvernunft nicht Sagbare. Es ist ein anderes Wissen – deswegen spricht die romantische Psychologie um 1800 von einer Nachtseite der Wissenschaft –, das sich ohne das Visuelle nicht benennen lässt. Andererseits Nachtbilder an sich, die Kunsthistoriker müssen das jetzt verzeihen, ergeben eine gewisse Redundanz. Das ist immer ein See und ein Mond, der sich dann widerspiegelt oder Christus, der hell im Dunkel leuchtet usw. Und Kino wäre für mich dann der Ort, wo diese Bilder noch mal in Bewegung gebracht werden, aber das allein reicht eben auch nicht.

Eikmeyer: Es gibt einen schönen Witz, den Boris Groys immer als Witz von einem russischen Betrunkenen erzählt und Slavoj Zizek als Witz von einem Wahnsinnigen. Ein Mann, eben der Betrunkene oder Wahnsinnige, hat nachts irgendwo seinen Schlüssel verloren und sucht den jetzt unter einer Laterne. Als man ihn dann fragt, ob er sicher sei, ihn da verloren zu haben, antwortet er mit nein, aber im Dunkeln könne man ja nichts sehen. Ich glaube, das ist genau die Situation der Philosophie, speziell der Philosophie der Aufklärung. Man hält sich an den Stellen auf, die man beleuchten kann und meidet die dunklen Stellen. Andere Strategien wie die Überschreitung, die Verausgabung, das Opfer, die Sexualität finden dann doch eher wieder an der Schnittstelle zur Literatur statt, sind also ursprünglich kein Teil der Philosophie.

Bronfen: Die Literatur lebt dann das aus, worüber die Philosophie tags nicht sprechen kann, das heißt aber, dass sie nachts davon träumt. Die Philosophie selber – auch die Philosophie der Aufklärung, Descartes, Kant, Leibniz – hat eine Nachtseite. Die Aufklärung spricht dann von dunklen Vorstellungen. Im Prinzip erstellt sie eine Karte dessen, was sie beschreiben kann, aber die dunklen Stellen, über die man nichts sagen kann, braucht man, damit man überhaupt eine Kartographie oder Kategorien aufbauen kann. Somit wird tatsächlich dieses Urchaos, das noch vor der Nyx liegt, auch benannt. Und Nyx, die Nacht, und was dann aus dieser Nyx-Figur alles an phantasmagorischen Gestalten in der Literatur emporsteigt, ist ja so eine Schaltstelle zu diesem unbekannten Anfang. Die romantische Philosophie und die Schauerliteratur sind wie eine Beleuchtung dessen, was man nicht benennen kann. Aber indem man sagt, man kann es nicht benennen, benennt man’s ja. Also man gibt ihm einen Platz und es ist dann die Frage, wie man diesen Platz ausleuchtet.

Eikmeyer: Aber diese Strategie der Aufklärung erzeugt ein gewisses Unbehagen, man vertraut einfach diesem Licht der Vernunft nicht mehr oder besser gesagt, dieses Licht der Vernunft gebiert eben auch immer neue Schatten oder scheidet einen hellen von einem dunklen Teil. Und in diesem Bereich von Hell und Dunkel bewegen sich dann die Gestalten des film noir, die wir in den nächsten Ausschnitten sehen werden.

Bronfen: Ich habe drei Filme ausgewählt: „Night in the City“ von Jules Dassin, „Big Heat“ von Fritz Lang und „Sweet Smell of Success“ von Alexander Mackendrick. Man sieht hier sehr gut, wie die Filme den Schauplatz etablieren. Als ich meine noir-Filme auf der Suche nach Nachtszenen noch mal durchgeschaut habe, fand ich es ganz erstaunlich, dass man z. B. bei „Big Heat“ nicht permanent die Nacht sieht, sondern lediglich am Anfang und am Ende wird Nacht und oft auch Außennacht etabliert und dann weiß man, alles was hier spielt, spielt in der Nacht. Noch eine technische Sache, bevor ich mehr zu den Clips sage. Diese Filme entstanden Mitte der 40er bis Mitte der 50er Jahre, da konnte man zwar teilweise nachts filmen aber nicht so aufwendig wie heute. Wo das nicht möglich war, drehte man mit einem Filter – man nennt das day for night oder nuit américaine – der den Tag zur Nacht macht. Und genau darum geht es in diesen Filmen. In dem Moment, wo sich jemand auf eine noir-Stimmung einlässt, hat er eine Art Filter vor den Augen und dann ist alles Nacht, also ringsum Nacht.

Eikmeyer: Noir bedeutet aber nicht, nicht einmal auf der Ebene der Handlung, dass wir es mit einem reinen Schwarz oder der Finsternis zu tun haben, sondern eigentlich handelt es sich um eine Trübung, ein Grau, etwas Schmutziges. Du nennst das noir-Tönung, getrübtes Licht oder erhellte Finsternis.

Bronfen: Der film noir ist eine Filmrichtung, die sich sehr stark des Chiaroscuros bedient und insofern natürlich auf die Idee des Nachtstücks, nicht nur in der Literatur sondern auch der Malerei, zurückgeht. Man hat dort genauso wie im noir sehr starke, nicht abgeblendete Lichtquellen. Man nennt das low-key-Beleuchtung, es gibt ein key light aber kein fill light, durch das alles glamourös und weich würde, sondern im noir sind die Sachen hart bestrahlt. Durch den Kontrast von Licht und Dunkelheit wird eine Palette an Grautönen erzeugt, die durchgespielt wird. Ganz im Schwarzen sieht man nichts, ganz im Weißem auch nicht. Und diese visuelle Palette an Grautönen ist es auch, was auf der Ebene der Handlung inszeniert wird. Natürlich haben wir es immer mit Verblendungen oder falschen Ambitionen der Handelnden zu tun, die dann meistens fatale Folgen haben, aber ich hab’ das Gefühl, was diese Filme genauso interessiert, ist immer wieder diese Zwischenzone auszuleuchten und das geht am besten in der Großstadt. Die Großstadt der 20er bis 50er Jahren hat selber etwas Theatralisches. Da können alle möglichen Dinge passieren, also die große Phantasien der Figuren in der Literatur und im Film im Zusammenhang mit film noir kreisen um die big lights in der big city, diese urban lights der big city stehen für den Amerikanischen Traum, dort geh’ ich hin, dort krieg’ ich Ruhm, den wunderschönen Mann, das Geld usw. In den 20er, 30er Jahren, in diesen Musicalszenen, die wir kennen, tanzten die Leute einfach mit den Champagnergläsern über die Dächer, nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das natürlich verdüstert. Aber die Idee war die gleiche: Gerade in der Großstadt und vor allem in der nächtlichen Großstadt kann man seine Phantasien ausleben. Und da ist es jetzt im Gegensatz zu Hegel eben nicht mehr ringsum dunkel, sondern es beginnt mit einem Flimmern der Lichter und hört auch meistens mit diesem Flimmern auf.

Eikmeyer: Mir ist aufgefallen, dass alle Figuren immer in Bewegung sind. Das hat auch etwas mit der Nacht zu tun, denn die Bewegung selbst hat eine Tag- und eine Nachtseite, sie ist ambivalent, wie Deleuze in seinem Buch über das Kino schreibt. Das meint die Idee, dass wir ohne uns zu bewegen, zum Beispiel wenn wir hier sitzen, trotzdem immer bewegt werden; wir altern in der Zeit. Und diese unterschwellige Bewegung spüren wir im noir ständig. Wir werden das später bei den nächtlichen Fahrten noch sehen, aber grundsätzlich sind die Helden und Heldinnen Getriebene, nicht nur wenn sie wie hier in der Szene über einen Platz rennen.

Bronfen: Es hat etwas sehr Ruheloses. Selbst wenn die Personen dann in den Innenräumen sind, findet man im film noir nie Menschen, die einfach nur ruhig irgendwo sitzen oder schlafen. Ich habe ein ganzes Band von Frauen in ihren Betten zusammengeschnitten, weil die die erstaunlichsten Dinge in diesen Betten machen. Sie stehen auf den Betten, sie sitzen, sie liegen, sie reden, sie entwerfen, usw. aber das Einzige, was sie in den Betten nicht machen, ist schlafen weder allein noch natürlich zu zweit. Das konnte man in den 40er, 50er Jahren im Kino sowieso nicht zeigen. Wenn man Humphrey Bogart im Bett sieht dann immer in dem Moment, wo er aufwacht. Das heißt keine Bewegung würde im noir ganz schwarz bedeuten. Aber man ist eben immer von etwas bewegt: vom Leben, vom Begehren, von Phantasien. Und das sind alles die Kinder der Nacht, die Nacht bewegt einen. Sie bewegt einen, weil man in den Tag will. Im film noir, wahrscheinlich der düstersten Gattung schlechthin, kommt aber niemand in den Tag. In den wenigen Filme, wo dann – zum Beispiel nachdem man eine Nacht lang ein Geständnis aus jemandem herausgeholt hat – der Morgen graut, erreichen wir genau den Moment, wo noir dann zum Melodrama wird. Aber was die Macher der noir-Filme interessiert, auch visuell, ist die Idee – ich will jetzt nicht sagen eingesperrt sein, denn das wäre schon eine negativ Deutung –, aus diesem Raum, aus diesem Teil der Karte kommt man nicht raus. Man kann sich nur endlos in ihm bewegen. Deswegen haben wir ja so oft entweder Autos, die durch die Straßen fahren, oder eben sehr gerne männliche Helden, die etwas durchgeknallt durch die Straßen rennen. In den Büchern zum film noir liest man immer, wie hochgradig formalisiert diese Filme sind. Das Spannende für mich ist aber, dass es innerhalb eines Films oft einen Wechsel zwischen Szenen mit hoher Formalisierung – im Sinne von Chiaroscuro – und solchen, wo man – fast wie Cinéma vérité – einen Einblick bekommt wie diese urbanen Nächte der damaligen Zeit tatsächlich gewesen sein müssen. Da kommt auch so ein Stückchen abgefilmte Realität mit rein. Deswegen liebe ich auch diesen Ausschnitt im Diner so. Man sieht zum Beispiel, dass man damals den Kaffee aus diesen Behältern getrunken hat und dass man offensichtlich spät am Abend – das wusste ich nicht – während die Leuten ihren Kaffee tranken, die erste Zeitungsausgabe gelesen hat. Man merkt hier wie Kulisse zu Realität und Realität zu Kulisse wurde und dass diese Verflüssigung, über die wir am Anfang in Bezug auf „Blade Runner“ gesprochen haben, vom Film selber inszeniert wird. Den Film interessiert nicht, ob das jetzt Cinéma vérité ist oder nicht, all das ist Teil dessen, wofür Nacht steht und Nacht steht komischerweise für eine unglaubliche Vitalität. So düster die Filme sind, so schrecklich, so korrupt, so bösartig, so brutal, was da gezeigt wird, ist auch unglaublich vital. Der ländliche Raum ist schrecklich, also wenn man da auf dem Land landet, das ist ganz schrecklich, mit den Kühen und den Pferden.

Eikmeyer: Der Zweite Weltkrieg hat sicherlich einen großen Einfluss auf die Entstehung des film noir gehabt. Wir haben auf der einen Seite die traumatisierten Kriegsheimkehrer, die in der amerikanischen Gesellschaft ihren Platz verloren haben. Die Kriegspropaganda hatte ein sehr schönes Bild von den Befreiern gezeichnet, aber die Wirklichkeit des Krieges sah dann ganz anders aus. Da kamen keine Befreier nach Hause, sondern traumatisierte Männer. Diese Männer finden ihren Platz dann häufig auch noch von den Frauen besetzt, die zahlreich die freien Arbeitsplätze in den Fabriken übernommen hatten. Die Frauen werden zwar teilweise von diesen neu eroberten Positionen wieder zurück an den heimischen Herd vertrieben, aber die Männer finden nach den grausamen Erlebnissen im Krieg auch keinen richtigen Zugang mehr zu ihrer Arbeit. Das hält bis in die 60er, 70er Jahre, die neue Rolle ist dann – wir werden das gleich bei „Taxi Driver“ sehen – der nächtliche Psychopath. Häufig ist es die Gesellschaft selbst, die diese Männer traumatisiert hat. Natürlich ist Travis Bickle ein Kriegsveteran, aber das ist, glaube ich, hier nicht das Entscheidende.

Bronfen: Nein, das ist nicht das Entscheidende. Aber auch bei den europäischen Emigranten, die in Hollywood Kino machten, hätte die Stimmung am Ende des Zweiten Weltkriegs eigentlich euphorisch sein sollen. Ein Großteil kam ja aus Deutschland, Österreich oder anderen europäischen Ländern, die unter dem Faschismus gelitten hatten. Nun war das Ende des Faschismus gekommen, aber niemand war euphorisch. Und: Noir-Filme waren B-Productions, das waren die „billig gemachten“ Filme, der Ort, wo man viel besser die Zensur umgehen und so die wirkliche kulturelle Malaise zum Ausdruck bringen konnte. Vor allem konnte man die Bildwelten, wie wir sie in der Ausstellung „Architektur der Nacht“ sehen, die ganzen Phantasien der Avantgarde und der Moderne in diese Bildsprache Kino übersetzen. Die A-Productions der Zeit konnten das nicht, denn die mussten viel mehr Geld verdienen. Und das zieht sich komischerweise dann durch, das hört nie mehr auf. Seit 1941 hatte man diese Leichtigkeit, die die 30er Jahre im amerikanischen Kino und vielleicht auch in der Literatur auszeichnet, nicht mehr und das geht dann in die 60er, 70er und 80er Jahre.

Eikmeyer: Diese Leichtigkeit war aber auch geradezu unerträglich.

Bronfen: Ja, diese andere Seite hier, die ist viel besser, die macht einen echt traurig. Nicht weil es Cinéma vérité ist, sondern das ist Kino, wie das Leben ist. Wir sind einfach alle Getriebene, wir wissen, dass wir sterben werden, wir haben viele Phantasien, denen wir nachgehen wollen, koste es, was es wolle. Wir wollen diese Grauzonen ausleuchten. Aber der klassische film noir bis so 1960 hat auch etwas sehr Beruhigendes, man weiß ja immer schon, wem was passieren wird: Die Femme Fatale stirbt immer, alle sterben eigentlich immer, das heißt, es geht nie gut. Und trotzdem: Man würde deswegen niemals auf dem Land bei der Schwester leben wollen, die drei Kinder hat und ein Auto und einen Hund. Da ist gar nichts: kein Nightclub, kein Glamour, kein Geld, Champagner ist nicht billig, die trinken alle wahnsinnig viel Milch, essen sehr viele Sandwiches.

Eikmeyer: Der film noir kennt den nächtlichen Flaneur nicht. Konsequenterweise schiebst du dieses Thema als Exkurs vor das noir-Kapitel in deinem Buch und behandelst hier auch „Taxi Driver“ von Martin Scorcese, der natürlich später gedreht wurde. „Nächtliche Fahrten“ wäre übrigens auch ein schöner Titel für ein Kapitel gewesen.

Bronfen: Die Straße, die wir in dem Ausschnitt aus „Sweet Smell of Success“ gerade gesehen haben, ist genau der Ort an dem dann Travis Bickle – 73 honorable discharged aus den Marines Vietnam – wie ein Wahnsinniger alleine nachts Taxi fährt, weil er nicht schlafen kann. Er fährt eigentlich eine verhältnismäßig kleine Route, nämlich von der 42. bis zur 59. Straße, also von Times Square bis Columbus Circle den Broadway auf und ab, auf und ab, auf und ab. Das ist nun leider aber nicht mehr dieser lebhafte Broadway der Shows, sondern bereits der Broadway der Pornokinos. Wenn man dagegen heute den Broadway auf und ab fährt, hat man Bodyshop, Bloomingdales, wenn überhaupt dann Retrodiners und alles Mögliche andere an Warenhäusern, die man in jeder anderen Stadt auch finden kann.

Eikmeyer: Und der Disney-Konzern hat zugeschlagen und den Times Square sozusagen disneyfiziert.

Bronfen: Das war das entscheidende Ereignis Ende der 90er Jahre. Da hat der Disney-Konzern seine großen Gebäude aufgebaut, vorher wurde alles abgerissen, die ganzen porno districts und Läden. Guiliani hatte das möglich gemacht und seitdem gibt es in Times Square keine Dunkelheit mehr, es ist immer hell. Um gegen die Kriminalität vorzugehen, hat man einfach an bestimmten Straßenkreuzungen riesige Lampen aufgestellt und alles ausgeleuchtet. Das hat natürlich auch seinen Reiz, aber vorher gab es im Times Square immer noch so kleine dunkle Ecken. Die Soziologen haben noch in den 70er Jahren von der Nacht als Last Frontier, letzte Wildnis, gesprochen, das ist die gleiche Idee, man bringt Licht in diese Dunkelheit. Die Elektrifizierung des Times Square wurde natürlich von allen New Yorker Romantikern als absolute Kapitulation wahrgenommen. Natürlich ist es in Harlem und anderen Vierteln teilweise immer noch dunkel, aber Times Square war sozusagen die letzte Bastion.

Eikmeyer: In „Collateral“ spielt Tom Cruise einen Auftragskiller, der nach Los Angeles gekommen ist, um in der Nacht vor einem wichtigen Prozess die Hauptzeugen und die Staatsanwältin umzubringen. Er steigt in ein Taxi, engagiert den Fahrer, ihn für eine horrende Summe hin- und herzufahren und der Taxifahrer wird dadurch in diese einzelnen Morde verwickelt.

Bronfen: Es ist in diesem Fall für die Hauptperson, den Taxifahrer Max, auch eine Art rite de passage. Das ist im Unterschied zu „Taxi Driver“, auf den Michael Mann explizit verweist, ganz klar. Trotzdem Travis Bickle am Ende von „Taxi Driver“ Läuterungen macht, er hat ein Mädchen gerettet, ist er immer noch schlaflos ist und fährt weiterhin in die Nacht. Er ist in so einer Art time warp, wie Martin Scorsese das genannt hat. Er scheint zwar etwas gesünder zu sein, aber es könnte jederzeit wieder explodieren. Insofern bleibt er auch ein nächtlicher Flaneur. Das Zentrale an „Collateral“ ist dagegen, das Tom Cruise für diesen schwarzen Taxifahrer, hinter dem er sitzt, eine Art Analytikerfunktion einnimmt. Er ist zwar ein contract killer oder mit „I’m just doing my job“ einfach nur die new economy, aber er hat auch so eine analytische Funktion. Er bringt den Taxifahrer dazu, langsam aber sicher zu begreifen, dass irgendetwas an dem Narrativ, was dieser von sich erzählt, nicht stimmt, wenn er behauptet sein Job sei nur temporär und er in Wirklichkeit schon seit 12 Jahren Taxi fährt. Max wird am Ende der Nacht alles kaputt machen: Er wird sein Auto kaputt schlagen, er wird den Mann umbringen und er wird sich tatsächlich verändern. Für mich ist aber auch wichtig, was diese beiden Filme über das Medium der Zeit aussagen. „Taxi Driver“ war in den 70er Jahren einer der ersten Filme, wo die amerikanischen Filmemacher mit den Kameras auf die Straße gegangen sind, um das Gespür dieser Nacht einzufangen, in der die ganzen Fairies, die ganzen Nachtgestalten der Schauerliteratur herumwandern. Michael Manns Film ist der erste feature film, der mit einer digital camera gedreht wurde, mit der man wirklich nochmal ganz andere mediale Umsetzungen von Nächten produzieren kann wie z. B. die Fahrt über die Häuser. Da wird die Nacht rein visuell schon wieder zur Kunst und obwohl „Collateral“ eigentlich die Idee von Hegel aufgreift, ist das eine ganz andere Art von Phantasmagorie.

Eikmeyer: Im Gegensatz zu Vincent, dem Auftragsmörder aus „Collateral“, ist Travis Bickle jemand, der die Welt vom Schmutz reinigen möchte. Er ist so ein typisch avantgardistischer Held, der Klarheit in die schmutzige Nacht bringen will. Diese Nacht verstanden als Welt ist für ihn nur so eine Oberfläche, eine Erscheinung, verbirgt aber einen Kern. Und um zu diesem harten Kern durchstoßen zu können, muss alles Kontingente beseitigt werden. Für Bickle muss der ganze Schmutz weggewaschen werden, damit am Ende etwas Reines übrig bleiben kann. Das hat auch in „Taxi Driver“ etwas sehr Totalitäres. Travis Bickle braucht zu Beginn einen Führer, bevor er mit der Reinigung beginnen kann und er findet ihn in Senator Palantine, der Präsidentschaftskandidat seiner Partei werden möchte. Es gab einen Zug in der Avantgarde, der genau in diese Richtung ging: Alain Badiou spricht in diesem Zusammenhang von Purifizierung, von der Passion des Realen als Charakteristikum des 20. Jahrhunderts.

Bronfen: Man sieht ja immer den Regen, man sieht dieses Wasser, Bickle sagt ja auch „things have to change, something must change“, und meint dieses Umschlagen, in der Nacht, durch die Nacht, die Nacht mit der Nacht eigentlich bekämpfen, um daraus einen Tag werden zu lassen. Das ist so eine avantgardistische Geste. Ich denke jetzt an die russische Avantgarde, an Malewitsch zum Beispiel.

Eikmeyer: Vincent, der Auftragskiller, ist so eine typisch nietzscheanische Figur. Als er auf sein drittes Opfer trifft, einen Nachtclubbesitzer, der selbst Musiker bzw. Trompeter ist, gibt er ihm eine Chance. Wenn er die nächste Frage richtig beantworten kann, dann schenkt er ihm das Leben. Es handelt sich selbstverständlich um eine Musikfrage, nämlich, wo Miles Davis zu spielen gelernt hat. Der Trompeter sieht sich schon gerettet und antwortet auch richtig, „das ist doch klar, in einer Musikschule in New York, der Juilliard School“, und wird daraufhin erschossen. Und dann erfährt der geschockte Taxifahrer von Tom Cruise, „im Prinzip war die Antwort richtig, aber eben nicht ganz, weil richtig spielen im Sinne von Musik machen hat er halt bei Charlie Parker auf der 52nd Street gelernt“. Es gibt ein sehr schönes Kapitel über Nietzsche in deinem Buch und das zeigt, dass auch Vincent nicht richtig im Sinne von Nietzsche operiert. Nietzsche meint eben mit der Nacht offensichtlich nicht das Dionysische, das Rauschhafte, den Urgrund, sondern er meint die Mitternacht.

Bronfen: Es gibt bei Nietzsche die Mitternacht als diesen tiefsten Punkt der Nacht, an dem die Mitternacht spricht. Dann kommt dieses „O Mensch, gieb Acht“, dann das Ganze mit Herzeleid und eben auch dieser Satz: „Doch alle Lust will Ewigkeit.“ Es ist aber erstmal wichtig, zu begreifen, dass Mitternacht und Mittag ganz ähnlich verstanden werden, das sind Nullpunkte, die quasi raumzeitlich aus ihrer Dimension rausfallen. Es ist keine klare Raumzeit mehr. Er sagt das sowohl von Mitternacht wie Mittag, das ist eine Zeit, sie ist zu kurz, sie ist zu lang, es ist auf jeden Fall keine für uns wahrnehmbare Zeit. Das sind für ihn zwei Nabelpunkte zum Unergründlichen, wie ich das beschreiben würde und ansonsten dreht es sich. Der Mittag hört auf und man weiß, es kommt Abend, bei der Mitternacht ist es der Morgen, der wiederkommen wird. Und das, was man in der Mitternacht erfährt, ist eben nun weder das Dionysische noch das Apollinische, was das Dionysische gestaltet. Man erfährt einerseits den Drang zur Vernichtung, man will vergehen, der Welt entrinnen und dann schlägt es aber in dieses „Alle Lust will Ewigkeit“ um. Damit ist natürlich nicht der dionysische Rausch gemeint, in dem wir uns dann ewig lustig rumtummeln, noch die Lust auf den Tod, in dem sich alles auflöst – diese avantgardistische Geste, von der du gesprochen hast –, sondern alle Lust will Ewigkeit meint eigentlich, dass wir immer wieder zum Dasein gezwungen sind. Wenn die Lust Ewigkeit will, dann in dem Sinne, dass sie das ewige Entstehen von neuen Erscheinungen, von neuen Welten, von neuen Phantasmagorien will. Da kommt das, was Nietzsche so am Willen zur Macht interessiert hat, zum Tragen. Es geht um das permanente Emergieren, also das permanente Entstehen von Erscheinungen. Er nennt das Erscheinungswechsel oder Erscheinungsspiel und das kann mal in die eine oder die andere Richtung gehen, aber die Ewigkeit, der wir uns nicht entziehen können, ist nicht diese Urewigkeit einer Urnacht oder der christologischen letzten Nacht, sondern eines permanenten immer wieder sich Neudurchsetzens, so ein Rhythmisieren, eine Vitalität.

Eikmeyer: Im Prinzip geht es darum, dass diese Nacht als eine Virtualität aufgefasst wird, ein Feld von Potenzialitäten und aus diesem Feld heraus werden bestimmte Realitäten aktualisiert, wie Deleuze das sagen würde. Das, was wir Leben nennen, ist eine Aktualisierung aus einem unendlichen Feld von Möglichkeiten. Man benötigt dann nicht mehr die Transzendenz, sondern bleibt in der Immanenz, man kann in diesem Werden, in diesem Strom des Werdens drinnen bleiben. Das ist es, was Nietzsche die ewige Wiederkehr des Gleichen nennt. Die Wiederkehr des Gleichen bedeutet eben nicht, dass sich irgendein Abschnitt aus der Vergangenheit endlos wiederholt, so wie in „Und täglich grüßt das Murmeltier“, wo Bill Murray sich in einer Zeitschleife befindet, weil derselbe Tag immer wieder von vorne beginnt. Bei der Wiederkehr des Gleichen wiederholt sich lediglich die Virtualität und damit kommt auch das Neue ins Spiel. Aus diesem virtuellen Feld aktualisieren sich einfach andere Folgen von Bildern, die wir dann Realität nennen.

Bronfen: Und das ist so gar nicht der Nietzsche, der von den Totalitären absorbiert wurde, im Sinne von, wir lösen uns alle im Rausch oder in der Reinheit auf. Es kommt einfach immer wieder etwas zustande, mehr nicht. Und dafür müssen Sachen aufgebrochen werden. Der Ort hierfür ist die Nacht; man kann sich in der Nacht Wahnzuständen hingeben, muss diese dann aber auch wieder aufgeben und die Nacht verlassen. Dieses permanente Wechselspiel hat etwas unglaublich Lebensbejahendes, nicht unbedingt Optimistisches. Der Horizont ist offen, das ist das Bild, das mir bei Nietzsche besonders gut gefällt. Er mag zwar dunkel sein, aber er ist offen, es wird immer wieder etwas entstehen.

Eikmeyer: Die Superhelden der 30er Jahre vor allem natürlich Superman und Batman sind es, die diesen Wechsel zwischen alltäglicher Gestalt und deren dunkler Seite ausleben.

Bronfen: Oder: Wie kriegen wir neue Öffnungen, wenn alles festgefahren ist? Was wir bei „Batman Returns“ sehen, sind die Phantasien der Utopisten der 30er Jahre. Tim Burton setzt sich in seinen Batman-Filmen wirklich unglaublich intelligent mit den ganzen Schriften der 20er, 30er Jahre zur Architektur, Kunst und Philosophie auseinander. Es gibt zwei Gründe, warum ich diese Szene ausgesucht habe. Das eine hat mit der Explosion zu tun und das andere mit den Bildern einer dystopischen Stadt. Diese Stadtbilder gehen in den Comic und kehren später aus dem Comic wieder in den Film zurück. Man darf ja nicht vergessen, dass Comics wie Batman oder Superman aus den 30er Jahren kommen und sich mit den totalitären Staaten und Führerfiguren wie Hitler und Stalin auseinandersetzen. Die Comics greifen etwas auf, was man bereits in der Schauerliteratur findet, aber eigentlich schon viel früher, zum Beispiel bei Böhme in seiner Kosmologie. Nämlich die Vorstellung, dass Gut und Böse Teil von Gott sind – der erste große Engel-Gott ist Luzifer und der trägt ja Licht –, also die Doppelseitigkeit des göttlichen Prinzips von Tag und Nacht, was sich dann nochmal in der Nacht offenbart: Nachts verführt der Teufel Eva in „Paradise Lost“, aber nachts erscheint auch Christus. Nacht ist nicht nur der Doppel von Tag, sondern Nacht ist in sich gespalten zwischen Erleuchtung und Verdammnis. Diese ganzen Comicbücher spielen einerseits Descartes’ Sein und Schein durch, aber andererseits auch diese zwei Seiten des Menschen bei Tag und bei Nacht. Da gibt es ganz viele Geschichten in der angloamerikanischen Literatur, die diesen Aspekt in der Auseinandersetzung mit dem Puritanismus behandeln: Ein guter Bürger wie in „Young Goodman Brown“ geht nachts in den Wald und dort sehen die Mitglieder seiner Gemeinde plötzlich wie Hexen und Dämonen aus. Die Comics drehen das um. Anstatt dass dann nachts alle sauberen Bürger ihr Tier rauslassen, haben wir hier Tiere, die hehrer sind als die Taggestalten. Bruce Wayne ist so ein trauriger Millionär mit einer Brille, der sonst nichts auf die Reihe kriegt, aber wenn er sich seinen Tieranzug anzieht, ist er ein Superheld. Er kann das nur nachts, das ist ganz wichtig. Nachts und nur nachts, kann der Kampf zwischen Gut und Böse ausgefochten werden. Aber das Schwarze und Geniale von Tim Burton ist eben zu zeigen, dass dieser Held im besten Fall ein Wahnsinniger ist. Die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen ist völlig verflüssigt. Man identifiziert sich lieber mit Batman als mit Penguinman, aber vielleicht auch nicht. Ich meine, Penguinman hat auch irgendwo Recht in dem, was er fordert. Man kann die Grenze bei dieser Doppelung eigentlich gar nicht mehr ziehen. Und man weiß auch nicht mehr, phantasiert da jetzt jemand Batman zu sein und ist in Wirklichkeit ein trauriger Millionär oder ist jemand Batman und stellt sich vor, ein trauriger Millionär zu sein. „Kill Bill“ ist ja so ein Film, der das dann nochmal umdreht. Wie auch immer, im Comic löst sich das ja alles im Strich auf und dieser gemalte Strich des Comics wird von diesen Filmen, seit den 80er Jahren gibt es die eigentlich, nochmal wieder ins Filmbild übersetzt. So dass sie sich auch irgendwo im Filmbild auflösen, das sind reine Postproductionfilme. Und insofern ist diese gezeichnete Nacht noch einmal eine andere urbane Nacht als die des Noir und auch die von „Collateral“ oder „Taxi Driver“.

Eikmeyer: Der „Titel Tiefer als der Tag gedacht“ meint eben nicht die Nacht, sondern in Anlehnung an eine Stelle aus „Also sprach Zarathustra“ Nietzsches Mitternacht. Das wirklich Neue an dem Buch, auch im Vergleich zum Ton deiner bisherigen Bücher „Nur über ihre Leiche“ und „Heimweh. Illusionsspiele in Hollywood“, ist allerdings die Bedeutung, die du dem Aufwachen aus der Nacht beimisst. Das hat für mich fast schon eine ethische Dimension. Du entwickelst dieses Aufwachen in Anlehnung an Stanley Cavell mit dem du vor einiger Zeit auch ein großes Gespräch über dieses Thema geführt hast. Wie soll dieses Aufwachen aussehen?

Bronfen: Stanley Cavell ist einer der ersten, der bereits schon in den 70er Jahren das amerikanische Hollywood-Kino als philosophische Fundgrube ernst genommen hat. Er hat daraufhin Bücher geschrieben, in denen er Hollywood nicht nur mit Shakespeare sondern auch mit Wittgenstein, Descartes und natürlich Thoreau zusammenliest. Er entwickelt daraus verschiedene Denkbilder, von denen ich nur eins erwähne, die Umformulierung einer Idee von Henry David Thoreau. Das ist in unserem Zusammenhang auch deshalb wichtig, weil Thoreau und Emerson sehr einflussreich für Nietzsche waren. Cavell will – ausgehend  von Descartes und Wittgenstein – mit Thoreau der Haltung des radikalen Skeptizismus etwas entgegensetzen. Er versucht das über so bestimmte Begriffe wie z. B. Anerkennung des anderen. Und es gibt da so ein Bild, eigentlich ein Zitat von Emerson, das für mich das ausschlaggebende war. Auf Englisch funktioniert das als Wortspiel: To move from mourning (Trauer) into the dawn of morning (Morgen). Aus einem Zustand von Trauer, Umnachtung, Verblendung in eine Morgenröte hinein gehen. Vielleicht ist diese Morgenröte bei Cavell etwas zu konkret gefasst, denn er kann sich dann auch genau vorstellen, wie die Morgenröte aussieht. Für mich ist diese Morgenröte so wichtig – dafür hab’ ich zehn Jahre gebraucht, um das zu begreifen –, weil man nicht über die Nacht schreiben kann ohne auch an den Tag zu denken. Tiefer als der Tag gedacht ist eine andere Art des Denkens, aber eine, die nicht nur über die Nacht denkt, sondern die Nacht immer entweder in Bezug auf den Tag denkt oder vom Tag aus über die Nacht reflektiert. Brangäne sagt mitten in Wagners „Tristan und Isolde“, „habet acht, die Nacht weicht dem Tag“, sie weicht unwillkürlich dem Tag, wie natürlich auch der Tag der Nacht weichen wird. Und the dawn, die Morgenröte, wäre für mich der Moment, an dem man weiß, es kommt etwas Neues, aber dieses Etwas, was da kommt, wird bei mir offengelassen.

Eikmeyer: Ich muss zugeben, dass ich mit Cavell meine Schwierigkeiten habe und das liegt vielleicht daran, dass es in diesem Aufwachen zwei Züge gibt, die nicht unbedingt zusammen gehören: Für Cavell entsteht nämlich die Nacht mit all ihren schrecklichen Folgen, Schicksal, Tragödien etc. zunächst einmal aus dem Skeptizismus, er meint nicht nur Descartes also Deckard aus „Blade Runner“, sondern auch Kant und das Ding an sich. Der Gedanke ist ungefähr folgender: Wir sehen nur Dinge wie sie uns erscheinen, aber nicht, wie sie wirklich sind. Die wahren Dinge sind also verzerrt gezeichnet, sagen wir durch einen Filter. Nun sagt Cavell, diese Tatsache sollten wir akzeptieren und nicht weiter dem Ding an sich nachjagen. Deleuze Antwort – und das ist glaube ich der Grund warum er ständig gegen Deleuze und Lacan polemisiert –, wäre, die Dinge sind genauso wie wir sie wahrnehmen, nämlich verzerrt, es gibt kein Ding an sich, sondern die Verzerrung selbst ist primär. Es gibt auch ein gutes Beispiel von Deleuze in seinem Kino-Buch wo er schreibt, dass allein der Unterschied zwischen zwei Bildern diese erst sichtbar macht. Der Unterschied geht den Bildern also voraus etc. Die Nacht ist dagegen in Cavells Konzeption ein Medium, verstanden als Ding an sich, das die Oberfläche der Welt trägt, in das man entweder todesschwanger eintauchen möchte oder vor dem man hilflos flieht. Und diese pathetische Geste verkennt völlig, dass unsere Kultur auch in der Philosophie schon längst von dieser tragischen Sicht der Welt Abstand genommen hat und eine andere Richtung eingeschlagen hat. Das heißt Cavells „stop and see“ als Aufwachen aus der Nacht und der skeptischen Fragen nach Ding und Ding an sich hat sich auf die Lücke zwischen den Dingen verschoben. Wir verbleiben also auf der Oberfläche können aber nicht wirklich dem vertrauen, was wir sehen. Und da hat Cavell sicherlich recht, das Gewöhnliche ist das Unheimliche, nicht die nächtliche Welt aus Prostituierten, Zuhältern und Transvestiten, die wir zum Beispiel in „Taxi Driver“ gesehen haben. Du kennst Cavell persönlich, hattest du Gelegenheit, ihn solche Dinge zu fragen.

Bronfen: […]

Eikmeyer: Lass uns bevor wir diese Punkte ausführlicher diskutieren, noch einen Ausschnitt zeigen, in dem dieses Aufwachen filmisch verhandelt wird, nämlich die Schlussszene von Jane Campions „In the Cut“.

Bronfen: […]

Eikmeyer: Nun endet das Buch auch nicht mit dem Aufwachen, sondern enthält einen Epilog über diese Leere bzw. Lücke, von der ich vorher gesprochen habe. Diese Leere, dieses Nichts ist das Subjekt oder besser die Subjektivität, womit wir wieder bei Hegel angelangt wären, diesmal vielleicht als Relektüre durch Deleuze, denn ich würde sagen, die Aktualisierung von Virtualitäten oder Potentialitäten ist ein schöpferischer, wenn auch nichtender Akt. Hineingehaltensein in dieses Nichts und der Eintritt in den Morgen sind die Schlusspunkte deines Buches und auch unserer kurzen Reise ans Ende der Nacht.

Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. München 2008.